KOMMENTAR
Demokratie und Performing Arts: Zwischen Debattenkultur und Cancel Culture
Demokratie und Performing Arts haben durchaus einige Gemeinsamkeiten, was sich nicht zuletzt auch in der Sprache zeigt, in der über Politik gesprochen wird. Dort finden sich nicht selten Begriffe wie Bühne, Rampe, Konzert, Orchester, Auftakt, Takt vorgeben oder Schlussakkord als Analogien.
Die darstellende Kunst – oder wie es im Englischen trefflicher heißt Performing Arts – erforschen und verhandeln die substantiellen Grundfesten gesellschaftlichen Miteinanders, insbesondere auch von Demokratie: Mitbestimmung, Freiheit, Gerechtigkeit, Macht, das Verhältnis Individuum und Gesellschaft und dies in der langen Tradition der Künste; von der griechischen Tragödie über die Vokalpolyphonie der Renaissance, von Shakespeare über das Gesamtkunstwerk eines Richard Wagners, Schostakowitschs 13. Sinfonie bis hin zur Dreigroschenoper, von Miles Davis über Bob Dylan bis hinein in Digitalität, Virtual Reality, Augmented Reality und Artificial Intelligence. Das bedeutet aber keinesfalls, dass Kunstuniversitäten per se Vorzeigeinstitutionen für gelebte Demokratie wären, wie anhand einiger aktueller Beispiele aufgezeigt werden soll.
Performing Arts als Showroom für das Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft
In der künstlerischen Praxis der Performing Arts findet sich ein faszinierendes Spektrum an Formaten und Formationen, aber auch an Arbeitsformen und Qualitätskriterien, die jene fundamentalen Herausforderungen an Individuum und Gesellschaft vorführen, denen sich die Demokratie stets aufs Neue gegenübersieht.
Man denke nur an so unterschiedliche Gruppierungen wie das Sinfonieorchester oder ein Streichquartett: Wie gestaltet sich hier der Arbeitsprozess für die einzelne künstlerische Persönlichkeit und das Zusammenspiel im Kollektiv? Bis zum Extrem werden individuelle Höchstleistung mit subtilem Einfügen und Verschmelzen ins große Ganze verlangt. Eben dies macht auch den Reiz der Kunstformen aus, die Komplexität und Emotionalität gleichermaßen zu meistern haben.
Eine weitere Herausforderung besteht in der Interpretation, die gleichzeitig Werktreue und künstlerische Freiheit verhandelt bis hin zur Improvisation, die vielen Musiken immanent ist (im barocken Continuo ebenso wie im kirchenmusikalischen Orgelspiel, im Jazz selbstverständlich bis hin zu vielen Formen Neuer Musik nach 1950). Hier ist stets eine persönliche künstlerische „Meinung“ verlangt, die natürlich auf einer profunden Kenntnis der künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten und Auseinandersetzung mit dem Werk basiert und gleichzeitig die Abstimmung im Kollektiv erfordert – nicht unähnlich demokratischer Prozesse. Improvisation als Basis kollektiver Gestaltung finden sich im Tanztheater einer Pina Bausch ebenso wie in der Stückentwicklung moderner Theaterwerkstätten. Das Aufbrechen der Perspektiven, die Integration wissenschaftlicher Erkenntnis in Meinungsbildungsprozesse und die Sollbruchstellen zwischen Ratio und Emotio, Individuum und Community – all dies wird in Stücken, Werken, Performances vor- und zur Diskussion gestellt, längst auch mit Publikumsbeteiligung und immersiv.
In diesem Sinne bieten die Performing Arts modellhaft Erkenntnisse über den Menschen und das Menschliche als Individuum und Kollektiv, erzählen vom Gelingen und Scheitern bis in Radikalpositionen hinein.
Ein zentrales Thema in diesem Zusammenhang bilden dabei stets die Freiheit und ihre Grenzen, die nicht zuletzt auch durch das Publikum mitbestimmt werden. Hier sind wir als Kunstuniversitäten besonders herausgefordert: Wann ist eine Interpretation zu frei? Wann eine Bühnendarbietung? Wer darf dies entscheiden? Die oder der verantwortliche Lehrende? Das Kollektiv der Lehrenden in einem Department? Die Expert*innen von außen? Die Presse oder Medien? Qualitätskriterien innerhalb von Evaluierungen und Akkreditierungen? Die im Universitätsgesetz verankerte Freiheit von Forschung, Lehre und Studium sind in der Praxis stets neu zu verhandeln – ganz ähnlich wie die Meinungsfreiheit des Einzelnen in einer Demokratie.
Wording und Sprachkultur
Betrachtet man sprachliche Gepflogenheiten oder auch Vorlieben im aktuellen universitären Betrieb hinsichtlich einer Förderung von Debattenkultur und Demokratieverständnis, so lassen sich durchaus Schwachstellen erkennen. In der Werteskala rangieren oftmals völlig andere Begriffe wesentlich höher: Drittmittelakquise, Innovation, Digitalisierung und Prüfungsaktivität werden als Indikatoren für Erfolg und Attraktivität einer Institution deutlich bevorzugt – auch in den Leistungsvereinbarungen mit dem BMBWF.
Begriffspaare wie
- Präsentationsmodus versus Reflexionsmodus,
- Behauptungsmacht von Statistiken und Wahrscheinlichkeiten versus Reflexion und diskursiver Auseinandersetzung,
- ECTS versus Studierendenlounge und Debattierclub,
zeigen Polaritäten auf, die vielerorts nicht ausgelebt werden. Auch Kunstuniversitäten sollten sich Gedanken machen, wie Anreize geschaffen werden können, die der Weiterentwicklung von Demokratiekompetenz im Zeitalter der Digitalität dienen.
Cancel Culture
Muss Beethoven „gecancelt” werden, da seine Werke als Ausdruck einer Kolonialzeit aufgefasst werden könnten, die längst überwunden sein sollte? Wie dem europäischen Cultural Heritage in der Kunst begegnen? Müssen Opern umgetextet werden – von Mozarts Zauberflöte, in der es heißt „Ein Weib tut wenig, plaudert viel“ bis hin zu Verdis Othello –, um unserem heutigen Verständnis von Political Correctness zu entsprechen? Forderungen dieser Art beschäftigen europaweit Kultur- und Bildungsinstitutionen wie auch die Medien. Ein Code of Conduct für die Künste widerspricht allerdings zutiefst der künstlerischen Freiheit, die ja auch von Provokation, Ausschärfung und Entlarvung handelt. Die Diskussionen um Cancel Culture treffen die Kunstuniversitäten in den Performing Arts in besonderer Weise und stellen Interpretation vor neue Herausforderungen, die weit über die Werktreue und eine historisch informierte Aufführungspraxis hinausgehen. Auch der Anspruch an Professionalität erweitert sich: Interpretation bedeutet, Stellung zu beziehen und wird damit zu einem politischen Akt. Ob sich dies bis in die Curricula hinein auswirken wird oder die künstlerische Praxis in den Häusern grundlegend verändert, kann aktuell noch nicht beantwortet werden.
Demokratie innerhalb der Institutionen
Nicht ohne Sorge beobachten wir eine geringe Beteiligung von Studierenden an ÖH-Wahlen. Nur wenige Studierende nehmen ihr Mitbestimmungsrecht wahr. Dieses einst so mutig erkämpfte Recht hat offensichtlich an Attraktion verloren, sicher aber nicht an Bedeutung. Als Institutionen sind wir hier dringend aufgefordert, die Ursachen zu analysieren und aktiv zu werden für mehr gelebte Demokratie innerhalb der Universitäten. Möglicherweise tragen Faktoren wie stark durchstrukturierte Studienprogramme, eine Tendenz zur Verschulung sowie hoher Leistungsdruck und Wettbewerb dazu bei, dass nur wenig Interesse oder auch Vertrauen hinsichtlich eines Mitbestimmungsrechts oder einer Mitgestaltung besteht.
Science Policy Advice
Hat Kunst in der österreichischen Demokratie eine politische Stimme? Mit dieser Frage haben sich auch die österreichischen Kunstuniversitäten in den Monaten der Pandemie intensiv beschäftigt.
Aktuell bewegen sich die Künste außerhalb der Politikberatung und wurden als nicht systemrelevant eingestuft. Bundespräsident Van der Bellen hat allerdings in seiner Ansprache zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 2021 deutlich gemacht, dass die Künste eines vormachten: Zeitgemäß bedeutet Erneuerung und Wandel, nie Rückschritt und Wiederholung. Eben dies könne die Gesellschaft aus den Künsten lernen.
Elisabeth Gutjahr
Rektorin der Universität Mozarteum Salzburg
Der Kommentar basiert auf dem Beitrag von Elisabeth Gutjahr zum Thema „Rolle der Hochschulen als ein Ort des Diskurses und der Demokratie(bildung)“ im Rahmen des diesjährigen Trilateralen Treffens in Wien (siehe unten). Fotocredit: Christian Schneider