Die Nachhaltigkeit der Mediatisierung – die Mediatisierung der Nachhaltigkeit. Ein Essay über die Zukunft der Kommunikation (Matthias Karmasin)
Moderne Gesellschaften suchen oft nach komplexitätsreduzierenden Formeln, um den Zeitgeist auf den Begriff zu bringen. Termini wie Globalisierung, Digitalisierung, Urbanisierung und Zielsysteme wie die SDG´s - to name just a few - gehören zum Inventar auch akademischer Gegenwartsdiagnosen.
Objektbereiche wie Klimawandel, Energiesicherheit, demografische Verschiebungen, globale Gesundheitsprobleme (aktuell: Pandemien) und damit verbundene (heuristische) Konzepte wie healthy aging, sustainable development, Verteilungsgerechtigkeit und aus dem engeren Bereich der Kommunikationswissenschaft media literacy stimulieren disziplinäre und auf Grund der Interdependenzen auch interdisziplinäre Bemühungen von blue sky research bis zu angewandter Forschung. Auch wenn sich viele dieser Prozesse trivialerweise weder linear entwickeln, noch teleologisch sui generis sind, da sie von Entscheidungen, die hier und jetzt getroffen werden, abhängen (z.B. ob man Ressourcenverbrauch angemessen bepreist und externe Effekte internalisiert, ob man Medien so organisiert, dass die Qualität der öffentlichen Debatte eher steigt denn sinkt), wird vor dem Hintergrund der auf kommunikative Veränderungen abzielenden Anfrage, ein Versuch unternommen, den Fragen „Welche Entwicklungen kommen in den kommenden Dekaden auf uns zu? Welche Herausforderungen entstehen daraus für die Gesellschaft?“ nachzugehen.
Bedingt durch technische Innovationen v.a. im Bereich der Kommunikationstechnologie- und Infrastruktur, in der Kryptographie und Vernetzung, der Digitalisierung (von Inhalten) die, wenn man die Entwicklungen im Bereich der Quantenphysik betrachtet, in Hinblick auf Beschleunigung und Größenreduktion noch lange nicht den Zenit überschreiten, haben sich digitale Endgeräte breit in vielen Gesellschaften verbreitet. Die Allgegenwart von Medien und die Möglichkeit, fast jederzeit und überall online zu sein - nicht nur im globalen Norden - hat unser Leben und unsere Interaktion in der heutigen Welt grundlegend verändert. Dies bedingt auch geänderte Nutzungspraktiken und Medienmenüs und veränderte soziale Konfigurationen, neue Formen der Kommunikation und dadurch eine grundlegende und nachhaltige Veränderung von Gesellschaften.
Der Terminus „Mediatisierung“ hat sich weitgehend als Sammelbegriff für die Beschreibung der Durchdringung der Gesellschaft mit Medien und den mannigfachen Veränderungen, die sich aus diesem Prozess ergeben auch jenseits der engeren fachlichen Grenzen der Kommunikationswissenschaft etabliert.[1] Mediatisierung wird dabei als Metaprozess[2] identifiziert, der alle Bereiche menschlichen Lebens umfasst - und die fast jede Dimension sozialen Lebens betrifft.
Zahlreiche empirische Studien in den letzten Jahren machen deutlich, dass sich in mediatisierten sozialen Welten diese Veränderungen auf alle gesellschaftlichen Aggregationsebenen und Funktionsbereiche beziehen: Wirtschaft, Politik, Sport, Gesundheitswesen, Kunst, Wissenschaft, Mobilität, Bildung, Familie und auch Medien und Journalismus, die Kommunikation von Organisationen, Formen der Vermittlung von Inhalten und der lebensweltlichen Integration des Umganges mit einem Überangebot an Information (und Misinformation) den Möglichkeiten auch selbst als „prosumer“ jederzeit Teil der Content Produktion zu sein - um nur einige zu nennen - und auch, dass diese Entwicklungen noch lange nicht an ihrem Ende angelangt sind.[3]
Eine der wesentlichsten Folgen dieses Metaprozesses ist die Fragmentierung der Öffentlichkeit - als funktionale, segmentäre und stratifikatorische Differenzierung, die sich am Horizont nicht nur als kommunikative Spaltungstendenz von Gesellschaften abzeichnet. Eine fragmentierte Öffentlichkeit, die in manchen (Themen-) Bereichen hyperlokal und personalisiert, in anderen global und in einer Mischung aus Fakten und Fiktionen, Unterhaltung und Berichten fluktuiert. Eine Entwicklung, die dafür verantwortlich ist, dass Öffentlichkeit ihre „seismographische Funktion“[4] nicht mehr angemessen wahrnehmen kann. Besonders deutlich wird dies im Bereich des professionellen Journalismus, wo Arbeitsplätze und Refinanzierungsmöglichkeiten schwinden, die Kommunikationsmöglichkeiten von Politik, Unternehmen und Zivilgesellschaften aber steigen. Die Zunahme an Partizipations- und Kommunikationsmöglichkeiten führen (paradoxerweise) nicht zu einer Zunahme an rationalen Diskursen und öffentlichem Vernunftgebrauch, sondern zu Emotionalisierung, Populismus und inner- und außerhalb Europas zu einer Zunahme der Attraktivität von postdemokratischen Strukturen.[5] Die aber wiederum neuen Formen ökonomischer Verwertung nicht im Wege stehen - im Gegenteil wie manche angesichts der „zero marginal cost economy„ digitaler Prozesse vermuten. [6]
In diesen Prozessen werden (auch deswegen) zumindest bis 2050, Maschinen im Sinne von Algorithmen, Kommunikationsrobotern (Chatbots, Socialbots), ubiquitäre Vernetzungen von Maschinen in Form des „Internets der Dinge“ und automatisierte Prozesse im Sinne selbstlernender Systeme (AI)[7] eine tragende Rolle spielen. Eine Rolle die, wie die jüngere Vergangenheit zeigt, durchaus reale politische, wirtschaftliche und soziale Konsequenzen haben kann, etwa wenn Bots (auch in Gestalt von gekauften followern mit gefälschten Profilen) in den sozialen Netzwerken den Eindruck vermitteln, eine Stimmungslage habe sich verändert und durch die schiere Masse der Meldungen eine bestimmte Einschätzung der Lage der Dinge formen, die einen partiellen Ausschnitt für das ganze Bild halten lässt. Dadurch werden auch Manipulationen (Stichworte: asymmetrische Mobilisierung, no dissenting opinions, guerilla Marketing) möglich. Im Zuge der Covid-19 Pandemie wurden aktuell auch Elemente einer „infodemic“ erkennbar, in der Misinformation, Verschwörungstheorien und Fiktionen sich erstmals in der Geschichte der Epidemien mit rasender Geschwindigkeit verbreiten konnten - oft mit skurrilen Folgen wie brennenden Funkmasten (da 5G vermeintlich nicht Therapie, sondern Ursache war). Aber auch weniger dystopische Entwicklungen, wie translokale Vergemeinschaftungen zur Lehre und Kontaktnahme mit Freunden und Verwandten, die zeitnahe mobile Diffusion von Fakten und die Möglichkeiten zum offenen gesellschaftlichen Diskurs trotz social distancing, ein Erstarken verlässlicher journalistischer Quellen, der Reputationsgewinn von Wissenschaft lassen sich aktuell verorten.
Dennoch: der Versuch die Qualität öffentlicher Auseinandersetzung zu heben, der Versuch die „res publica“ nicht nur als Spielfeld von public relations und Partikulärinteressen zu gestalten, die Infrastruktur der Demokratie (und dazu gehört auch professioneller unabhängiger Journalismus) intakt zu halten und zu verbessern, auch den sog. „Intermediären“ (Plattformen und sog. social media) Verantwortung zuzuweisen und „media literacy“ flächendeckend und generationenübergreifend zu realisieren, erweist sich aktuell als Herausforderung für mediatisierte Gesellschaften, zumal für demokratische - und wird es bis 2050 bleiben. Für relativ kleine - wie Österreich – ergeben sich damit aus dem Metaprozess Mediatisierung mannigfache Herausforderungen, die viele Bereiche umfassen, von der Bildungs-, Wissenschafts-, Wirtschafts-, Demokratie- und Kulturpolitik, von der Umwelt- bis zur Medienpolitik, von der Überwindung von „digital divides“ (auch im Hinblick auf Kompetenzen), der Sozialpolitik und der internationalen Zusammenarbeit und Regulierung angesichts globalisierter Prozesse. Dazu kommt die Frage, wer denn auch im digitalen und mediatisierten sozialen Raum Souverän ist, wie man Recht in diesen Bereichen nicht nur setzen, sondern auch durchsetzen kann - besonders dann, wenn man aktuell nicht an der vordersten Front der technischen und sozialen Innovationen steht.
Konkret besteht die Herausforderung vor allem darin - hic et nunc - Entscheidungen zu treffen. Es geht nämlich im Kern um die Frage, in welcher Gesellschaft wir in Zukunft leben wollen - denn die demokratische und freie (um nicht zu sagen: aufgeklärte) Form von Öffentlichkeit ist als Lebensmodell bedroht: inner- und außerhalb Europas, politisch, ökonomisch, technologisch, sozial und wohl auch ökologisch - sie versteht sich nicht mehr von selbst.
Trotz der aktuell auf die Pandemie fokussierten Debatten ist die Frage nach der Zukunft wohl besonders in Bezug auf die Bewältigung der ökologischen Krise bzw. Klimakrise (oder positiver: der Realisierung der SDG´s) und der Sicherung der Lebensgrundlagen bis 2050 (und wohl darüber hinaus) relevant. Was also im Bereich Nachhaltigkeit zu tun ist, was zu lassen ist und was zuerst zu tun ist, was eine Innovation in diesem Kontext ist, wie viel Risiko wir als Gesellschaft und als Individuen eingehen wollen und wie sicher uns sicher genug scheint, in welche Richtung man Anreize setzen (oder in new speach „nudgen“ ) soll, welche Verantwortung Organisationen übernehmen sollen, ob Individuen bereit sind, rational und langfristig oder nur emotional und vom hedonistischen Utilitarismus geleitet zu handeln - all diese Fragen werden wohl auch bis 2050 auf Basis mediatisierter Kommunikation verhandelt. Damit geht es um Kommunikation von Nachhaltigkeit in einem mediatisierten Umfeld von (oft widersprüchlichen) Interessen, Informationen und Misinformationen und wohl auch in diesem Bereich, angesichts der schieren Menge verfügbarer Inhalte, um die zentrale Frage, welche Informationen hinreichend valide sind und damit handlungsrelevant sein sollen.
Nicht nur hierfür (aber wohl auch) qualitätsgesicherte Evidenzen anzubieten, scheint eine wesentliche Aufgabe der Wissenschaft zu sein. Genauso wie im Bereich der Grundlagenforschung, Entwicklungspfaden als möglichen alternativen Zukünften nachzugehen und sich darüber auch öffentlich auseinanderzusetzten und so öffentlichen Vernunftgebrauch zu befördern. Ohne freilich die wissenschaftsinhärenten Standards der Heuristik und Epistemologie als Fundamente wissenschaftlicher Integrität und Autonomie aufzugeben. Dem tertiären Sektor, insbesondere jedoch den modernen Universitäten, die auch Hüterinnen und Vermittlerinnen einer wissenschaftlichen Weltauffassung sind, kommt damit in kommunikativer Hinsicht als Teil der mediatisierten Gesellschaft und insbesondere im Hinblick auf eine nachhaltige Entwicklung eine neue und relevante Aufgabe zu. Eine Herausforderung für die sie in Bezug auf Binnenorganisation (z.B. Fächergrenzen, Berufungsverfahren und die Organisation akademischer Karrieren, Organisationseinheitenflexibilität und die Notwendigkeit inter- und transdisziplinärer Kooperationen) aber auch vor dem Hintergrund der gesetzlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen nicht immer optimal gerüstet scheinen. Nicht nur - aber auch in Österreich.
Matthias Karmasin leitet das Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Klagenfurt und ist Direktor des Instituts für vergleichende Medien- und Kommunikationsforschung der österr. Akademie der Wissenschaften. Er lehrte u.a. in den USA, der Schweiz und Deutschland und war als Gastprofessor am Karlsruher Institut für Technologie bzw. als Professor für Medien und Kommunikationswissenschaften an der TU Ilmenau tätig. Er ist Mitbegründer und Akademischer Direktor des „Medienhaus Wien“ und Mitglied in mehreren Ausschüssen und Gremien – darunter der ORF-Publikumsrat (seit 2014) oder RTR (Rundfunk und Telekom Regulierungs-GmbH). Immer wieder meldet er sich auch im öffentlichen Diskurs zu medien- und forschungspolitischen Fragen zu Wort.
[1] Lievrouw/Livingstone (2009) leiten vor einer Dekade ein: “No part of the world, no human activity, is untouched by the new media. Societies worldwide are being reshaped, for better or for worse, by changes in the global media and information environment. So, too, are the everyday lives of their citizens. National and subnational forms of social, political and economic inclusion and exclusion are reconfigured by the increasing reliance on information and communication technologies in mediating almost every dimension of social life.” Lievrouw, L. & Livingstone, S. (Eds.) (2009). Major Works in New Media. London: Sage.
[2] Vgl. Krotz, F., Despotović, C., & Kruse, M.-M., (Eds.) (2017). Mediatisierung als Metaprozess: Transformationen, Formen der Entwicklung und die Generierung von Neuem. Wiesbaden: VS.
[3] Exemplarisch reutersinstitute.politics.ox.ac.uk/our-research/digital-news-report-2019 und www.mpfs.de/studien/jim-studie/2019/ und statcube.at/statistik.at/ext/statcube/jsf/tableView/tableView.xhtml vgl. konzeptiv etwa Hepp, A. & Krotz, F. (Eds.) (2014). Mediatized Worlds. Houndsmills: Palgrave.
[4] Imhof, K. (2011): Die Krise der Öffentlichkeit: Kommunikation und Medien als Faktoren des sozialen Wandels. Frankfurt am Main (u.a.): Campus Verlag.
[5] Oft als „Postdemokratie etikettiert - Crouch, C. (2008). Postdemokratie. Frankfurt a. M.: Suhrkamp., vgl. zur Fragmentierung der Öffentlichkeit etwa: Eisenegger, M.; Ettinger, P.; Udris, L. (Hrsg.): Öffentlichkeit und Gesellschaft im Wandel. Wiesbaden: VS Springer, 2019.
[6] Zuboff, S. (2018): Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus. Frankfurt/New York: Campus.
[7] https://ec.europa.eu/info/files/white-paper-artificial-intelligence-european-approach-excellence-and-trust_de