KOMMENTAR
Trilaterales Treffen: Grenzüberschreitung einst und jetzt
Das Foto entstand anno 1907. Es zeigt 25 gestreng dreinblickende, vorwiegend bärtige Herren im Frack oder Gehrock, in einer Halle mit dunklen Holzvertäfelungen, übergroßen Gemälden und vielstrahligem Luster. Ort ist die Aula der 1527 gegründeten Philipps-Universität Marburg; Anlass ist das erste Trilaterale Treffen von Rektoren – dazumal bekanntlich nur Männer – aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Proceedings der Tagung sind auf dem grünen Tisch ausgebreitet.
Das Trilaterale Treffen von Rektorinnen und Rektoren der D-A-CH-Länder (HRK, uniko, swissuniversities) beging heuer also sein 110-jähriges Jubiläum. Die einstige Marburger Agenda ist nicht überliefert. Wir können aber getrost davon ausgehen, dass sie sich nur marginal mit jener des diesjährigen Treffens, das von 21. bis 22. September an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt stattfand, überschnitten hat. Bei allen sechs Themen erwies sich, dass die Druckpunkte in den drei Nachbarländern, die frei nach Karl Kraus vor allem die gemeinsame Sprache trennt, im Wesentlichen dieselben sind:
Hochschulfinanzierung und Aufnahmeverfahren: Hier ist die Lage in Deutschland und der Schweiz maßgeblich besser, wobei die aktuellen österreichischen Entwicklungen in Richtung Studienplatzfinanzierung den Anschlusstreffer bringen könnten.
Ausbildung von Medizinerinnen und Medizinern / Ärztemangel und Qualitätssicherung: Das „Landarztproblem“ ist allerorts das gleiche (in grün). Es ist im Kern ein Verteilungsproblem: Die Niederlassungsbedingungen sind entsprechend zu attraktivieren. Ärztliche Versorgungszentren werden relativ zu Einzelpraxis und Großklinik eine wachsende Rolle spielen; ambulante Diagnostik und Versorgung wird zunehmen.
Open Access / Open Science: Die freie und unverzügliche Verfügbarkeit wissenschaftlicher Veröffentlichungen ist zum Greifen nah. Sie bedarf jedoch einer Änderung der Geschäftsmodelle von Verlagsgiganten wie Elsevier, mit denen die deutsche Hochschulrektorenkonferenz (HRK) in harten Verhandlungen steckt. Dieser Paradigmenwechsel wird auch Publikationsgewohnheiten verändern, weil die tatsächlichen Kosten einer Veröffentlichung transparent werden.
Digitalisierung: Sie durchdringt rasant alle Lebensbereiche, eröffnet Chancen und Risken. Die Universitäten haben dabei mannigfaltige Aufgaben: Die technologischen Entwicklungen, die Ausleuchtung ökonomischer und soziologischer Effekte, die Erschließung neuer Felder wie „Digital Rights“, die Sicherstellung schulischer Kompetenzen, die Digitalisierung der eigenen Angebote. Deutschland und die Schweiz setzen hier engagierte Programminitiativen.
Gefährdete Wissenschaft / Akademische Freiheit: Der globale „March for Science“ liegt noch nicht lange zurück; das Eröffnungsstück der „Hochschulgespräche“ in Alpbach zu exzessiver politischer Korrektheit lässt ebenso schlucken wie die Situation in der Türkei, in den USA, in Ungarn oder Polen. Klarer Konsens: Wissenschaftsfreiheit ist mehr als nur die Abwesenheit von Repression.
Soziale Dimension / Zugang zu Hochschulbildung: Das für den deutschen Sprachraum typische Gymnasialsystem macht wirksame „end of pipeline“-Maßnahmen schwierig. In Deutschland und Österreich besteht jedoch mittlerweile ein waches Bewusstsein für die Notwendigkeit aktiver Förderprogramme.
Die Aufgabenvielfalt der Hochschulen ist heutzutage eine merklich andere; das Thema Diversität ist in jeder Hinsicht auf dem Campus angekommen. Anders als ihre befrackten Vorgänger spiegeln auch die Rektorinnen und Rektoren selbst Diversität wider. Das ändert zugleich nichts an den Grundaufgaben von Universität: Forschung und Lehre auf höchstem Niveau, Forderung und Förderung von Problemlösekompetenz bei unseren Studierenden. Die wird es im 21. Jahrhundert ebenso dringlich brauchen wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, damals in der Aula zu Marburg.